Gänsehautmomente

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30 PS weniger als im Huracán EVO mit Allradantrieb, dafür aber auch 30 kg Gewichtsersparnis – der „kleine“ Lambo mit nur einer angetriebenen Achse kann vor allem eines: mit der Kombination aus Fahrspaß und Driftfreudigkeit seinem Piloten Gänsehaut bereiten.

Bericht: Guido Strauss/Fotos: Theresa Weinand

Jeder mit etwas hochoktanischem Zusatz im Blut kennt dieses Gefühl, wenn ein Sportwagen mit betörender Klangkulisse an einem vorbeirauscht. Die feinen Härchen auf den Armen salutieren senkrecht, es läuft einem ein angenehmer Schauer den Rücken herunter.

Lamborghini ist ein Garant für diese Reaktion im menschlichen Körper und der Huracán EVO RWD mit seinem brachialen 5.2 Liter Zehnzylinder setzt dem Ganzen die Krone auf. Man ist fast dazu geneigt zu behaupten, wenn man seinen Sound hört, kann man sich einen Sack Kartoffeln schnappen und diese auf den Unterarmen für Reibekuchen rappen.

Ein Merkmal des EVO-Modells: die kleine dezente Spoilerlippe über den Heckleuchten.

Doch wo liegt der Ursprung dieser Emotionen? In Sant’Agata Bolognese, einer kleinen italienische Gemeinde mit rund 7500 Einwohnern nahe bei Bologna, steht das Stammwerk von Automobili Lamborghini. Hier entstehen sie zum größten Teil noch in Handarbeit, die Aventador, die Urus und eben der Huracán. Als Coupé und als Spyder, mit Allrad- oder Heckantrieb, aber grundsätzlich mit einem famosen Zehnender im Heck. Der stammt zwar in seiner Basis vom Mutterkonzern Audi, allerdings haben die italienischen Ingenieure es geschafft, dieses Aggregat auf einen noch höheren Level zu pushen.

Der Trick des aufgefrischten Huracán mit Heckantrieb ist seine neue, speziell für ihn entwickelte Traktionskontrolle namens P-TCS (Performance Traction Control System), die für geschmeidigere Regeleingriffe sorgen und den Fahrer besser aussehen lassen soll.

Bedingt durch die Audi Quattro-Gene krallen sich im Normalfall bei den Lamborghini-Modellen alle vier Räder in den Asphalt um die Leistung kontrolliert umzusetzen. Das ist nicht jedem Anhänger der Marke recht. Denn dadurch ist der Spaß am „Quertreiben“ doch ziemlich eingeschränkt, wenn ihre Besitzer ihren Pretiosen auf Rennstrecken die Sporen geben wollen. Das Zirkeln um Kurven mit der Kombination aus Lenkung, Gasfuß und Heckantrieb fordert einfach mehr Können von seinem Fahrer.

Der Huracán EVO RWD in seinem Element: kurvenreiche Landstraßen

Diesem Ruf der Kundschaft folgte man selbstverständlich. Doch mit dem Wegfall der vorderen Antriebswellen war es alleine nicht getan. Um richtiges Mittelmotorfeeling und -Fahrverhalten zu erreichen und trotzdem die Sicherheit nicht aus den Augen zu lassen, ist die Hinterachse mitlenkend ausgelegt und der Pilot kann auf drei Fahrmodi zugreifen. Im normalen Fahrmodus „Strada“ sorgt das P-TCS für Schlupfverringerungen an den Hinterrädern und folglich ein sicheres, stabiles Fahrverhalten. Der „Sport“-Modus hingegen lässt ein Durchdrehen der Hinterräder zu, um einfaches Driften ohne Beeinträchtigung der Sicherheit zu ermöglichen und der Supersportler nicht in Schutt und Asche zerlegt wird, wenn man es mal krachen lässt.

Das 10-Mann-Orchester sorgt für die richtige Musik.

Außerdem verspricht Lamborghini gegenüber dem Vorgänger 30 Prozent sanftere Regeleingriffe, 20 Prozent mehr Traktion am Kurvenausgang sowie eine Verbesserung des Übersteuerns um 30 Prozent. Das sind zwar nur Zahlen auf dem Papier, entscheidend ist das Fahrgefühl selbst.

Womit wir von der Theorie in die Praxis übergehen. Vor uns kauert er nun, der Lamborghini Huracán EVO RWD. Im Farbton „Grigio Adamas“, lediglich 1,16 m hoch. Aus jedem Blickwinkel wirkt er gefährlich, so wie der Kampfstier der spanischen Rasse „Conte de La Patilla“, nach dem er benannt wurde und der im August 1879 in Alicante kämpfte, wobei er ungeschlagen blieb. Das geradlinige Design, für das Filippo Perini von Lamborghinis eigenem Design-Studio Centro Stile Lamborghini verantwortlich zeichnete, lässt einen fast schon vor Ehrfurcht niederknien. Apropos knien – wie zum Kuckuck sollen mein Beifahrer und ich in dieser Flunder Platz finden? Handicap eins: wir sind beide 1,98 m groß. Handicap zwo: wir sind keine Mitglieder im chinesischen Staatszirkus und verfügen über die Gelengigkeit einer Bahnschwelle.

Klar, aufgeräumt und doch sehr extravagant. Die Nähe zu einem Flugzeug-Cockpit ist gewollt.

Also starten wir unseren Versuch, das Cockpit zu erobern. Oh Wunder, es funktioniert besser als befürchtet. Dank der konventionellen Türöffnung und keinen Lambo-Doors wie etwa im Aventador, finden wir mit einem leichten Hüftschwung doch den Weg auf die flachen, dünnen Sportsitze. Das linke Bein ist im Huracán eh nur beim Ein- und Aussteigen von Nutzen, das rechte ertastet sein Aufgabengebiet Bremse- und Gaspedal. Oberkörper an die Rückenlehne angepaßt, die Neigung etwas verstellt, Lenkrad zum Körper gezogen. Paßt! Bis zum ersten kleinen Schlagloch. Da begrüßen dann zwei Schädeldecken den Alcantara-Dachhimmel. Wohlgemerkt, das liegt an unseren Dimensionen, den flachen Italiener trifft keine Schuld.

Nach ein paar weiteren Straßenunebenheiten passen unsere Körper in die Sitze und die Distanz zum Dach hat sich vergrößert. Jetzt beginnt der Wagen richtig Spaß zu machen und wir können uns auf das konzentrieren, was sich hinter unseren Rücken abspielt. Denn schon beim Drücken des Starterknopfs, angelehnt an das Design in einem Kampfjet, beginnt die Gänsehautphase.

Tradition: Plakette mit der Zündungsfolge des 5.2 Liter V10-Triebwerks.

Der hubraumstarke Zehnzylinder brüllt auf. 1-6-5-10-2-7-3-8-4-9. Wie auf der Plakette im Motorraum angekündigt, erwacht ein Zylinder nach dem anderen zum Leben um gemeinsam in einen böse grummelnden Leerlauf zu verfallen. Wir sind gewarnt, da lauert eine stierische Urgewalt nur darauf, dass man sie mit einem dezenten Kick auf das Gaspedal los lässt. Als Fahrer stösst man nun auf eine kleine anatomische Sensation. Wussten Sie eigentlich, dass die Fußmuskulatur in einer direkten Verbindung mit den Mundwinkeln steht? Na, dann geben Sie mal in einem Huracán Gas! Sobald sich die Fußsohle senkt, schnellen die Mundwinkel nach oben. Und der Huracán schnellt nach vorne…

Nach 3,3 Sekunden wird die Tachoanzeige dreistellig und die Mundwinkel erreichen die Ohrläppchen. Auf freier Bahn zieht der lediglich 1.389 kg leichte Italiener in weiteren 6 Sekunden auf 200 km/h und macht nicht im Geringsten Anstalten, mit dieser Beschleunigungsorgie nachzulassen. Hierbei arbeitet das perfekte 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe in einem unglaublichen Akkord.

Bremsen, die bremsen. Kompromisslos. Als würde man einen Bremsfallschirm öffnen.

Und im Rücken der Besatzung ballert das Zehn-Mann-Orchester wie entfesselt Metallica-Songs. Beruhigend, dass man als Fahrer die Symphonien und ihre Lautstärke selbst bestimmen kann. Denn dafür gibt es den Fahrmodi-Knopf am unteren Rand des Lenkrades.

„Strada“, „Sport“ und „Corsa“ lauten die Optionen, die sowohl Fahrwerk, wie auch Lenkung und Motoransprechverhalten steuern. Und eben das Konzert im Heckbereich.

Im Strada-Modus gibt sich der EVO noch ziemlich alltagstauglich, ja fast schon friedlich. Okay, friedlich ist etwas tiefgestapelt, ein Lamborghini ist auch in diesem Modus ein Lamborghini und hält sich mit seiner Leistung nicht zurück. Strada empfiehlt sich für den täglichen Hausgebrauch, etwa bei der Fahrt zum Großeinkauf, wenn man sich vorgenommen hat, den 100 Liter-Kofferraum mal so richtig vollzupacken.

Der Straßenjet vor dem alten Hangar auf dem Hahn Airport.

Wählt man die nächste Evolutionsstufe in der Elektronik, Sport, kommt man den Erwartungen immer näher. In dieser Einstellung liefert der EVO RWD nun das ab, weswegen ihn seine Kunden bevorzugen. Der Gasfuß darf der angetriebenen Hinterachse den Befehl zum Querfahren geben. Driften mit Gefühl und Sicherheit, so lautet die Devise. Steht einem ausreichend Platz zur Verfügung, darf man sich mit Sinn und Verstand an immer größere Driftwinkel herantasten. Selbst Lamborghini-Neulinge haben den Bogen fix raus, so perfekt haben die Ingenieure den Spagat zwischen quer und drehen entwickelt. Im normalen Straßenverkehr hat diese Fahrweise natürlich nichts verloren, aber es ist gut zu wissen, dass man in einer möglichen Gefahrensituation, etwa um einem Hindernis auszuweichen, genug Sicherheitsreserven hat.

Sollte man allerdings eher schnell als quer unterwegs sein wollen (auf der Rennstrecke beispielsweise), kommt der „Corsa“-Modus, bei dem P-TCS den Hinterradschlupf so anpasst, dass Traktion und Agilität optimiert werden, zum Einsatz. Jetzt wird der Huracán zum Italo-AGV, dem schnellsten Zug Italiens, der annähernd gleiche Geschwindig- keiten vorzuweisen hat. Und ähnlich marschiert auch der EVO wie auf Schienen, kurze Korrekturen am Lenkrad werden Dank extrem direktem Ansprechverhalten unverzüglich umgesetzt. So, und ganz genau so, muß sich ein Sportwagen anfühlen. Er verschmilzt mit seinem Fahrer zu einer Einheit und setzt dessen Befehl gnadenlos um. Die Gänsehaut ist wieder da…

Der Huracán am alten Bollwerk in Andernach.

Bisher ging es nur vorwärts, aber man sollte nie die Negativbeschleunigung, sprich das Bremsen vergessen. Auch hier brauchen wir gar nicht groß zu diskutieren. Die serienmäßigen Stahlscheiben verzögern von 100 auf Null auf gerade einmal 31,9 m. Die optionalen Keramik-Stopper können das nicht unbedingt besser. Aber bei soviel Sportwagenperfektion war das nicht anders zu erwarten.

Last but not least, existieren neben dem Antrieb noch andere Nebenschauplätze im Huracán EVO RWD. Wie etwa das Interieur. Optisch erinnern viele Designelemente an ein Flugzeugcockpit, wobei alles übersichtlich und sinnvoll angeordnet ist. Etwas ungewohnt sind die fehlenden Lenkstockschalter für Blinker und Scheibenwischer. Die Bedienelemente wurden im Lenkrad integriert und gehen nach kürzester Eingewöhnung in Fleisch und Blut über. Dafür sitzen rechts und links die beiden Schaltwippen, die bei jeder Lenkraddrehung gut zu erreichen sind. Sofern man lieber selbst schaltet und die Gangwahl nicht der Automatik überläßt.

In der Mittelkonsole befindet sich das Befehlszentrum was das Entertainment betrifft. Es ist zwar irgendwie perfide, in diesem Auto Musik zu hören, doch die Optionen sind zumindest vorhanden. Apple Carplay, Android, USB, AUX und wie all die neumodischen Spielereien lauten. Und ein Navigationssystem sowieso.

Auch sonst gibt sich das Interieur sportlich-hochwertig. Leder, Alcantara und Carbon Skin, ein innovatives, exklusiv für Lamborghini gefertigtes Material aus Carbonfaser, bieten optisch und der Haptik jede Menge Reize.

Kein Testwagen ohne nackte Zahlen, so will es das Gesetz. Fangen wir beim Preis an. 185.477 Euro ruft Lamborghini für seinen Supersportler auf. Das ist natürlich eine Menge Geld, aber in diesem Fahrzeugsegment ist das durchaus ein adäquates Angebot. Die Konkurrenz setzt mittlerweile durchweg auf Biturbo-V8-Aggregate, Lamborghini serviert einen unverfälschten hubraumstarken V10-Sauger.

Der Verbrauch. Wer sich solch einen Wagen leistet, den interessiert sicherlich nicht, was an Sprit durch die Brennräume gejagt wird. Wir waren trotzdem neugierig. 80 Liter Fassungsvermögen bietet der Tank und Lamborghini gibt einen Durchschnitt von 13,8 Liter auf 100 km an. Waren wir entspannt und lässig im Strada-Modus unterwegs, so genehmigte sich der EVO etwas weniger als 12 Liter. Bot sich die Möglichkeit, auf Autobahn und freier Landstraße etwas sportlicher zu fahren, zeigte die Verbrauchsanzeige 16 Liter an. Da hatten wir echt mit mehr gerechnet. Letztendlich war es aber jeder Tropfen wert.


Fazit: Lamborghini bietet seiner Klientel, die Heckantrieb bevorzugen, den perfekten Sportwagen. Neben dem gebotenen Fahrspaß und durch sein extravagantes Design, innen wie außen, ist der Huracán wahrhaft ein Hingucker und Showman. Der V10 ist eine Hausnummer für sich, der Klang sucht seinesgleichen, sein Auftritt begeistert, sein Antritt verzückt. Und er hat etwas geschafft, was in der heutigen oftmals sterilen automobilen Zeit Seltenheitswert hat. Dieses Gänsehautgefühl zu bescheren, das auch noch nach dem Aussteigen anhält.

Motor:
Mittelmotor V10
Hubraum: 5.204 ccm
Leistung: 449 kW / 610 PS bei 8.000 U/min
Drehmoment: 560 Nm bei 6.500 U/min
Antrieb: Hinterradantrieb
Getriebe: 7-Gang DKG

Maße:
Länge: 4.520 mm
Breite: 1.933 mm
Höhe: 1.165 mm
Radstand: 2.620 mm
Wendekreis: 10,9 m
Tank: 83 l
Leergewicht: 1.389 kg
Zuladung: 578 kg
Leistungsgewicht: 2,22 kg/PS
Kofferraum: 100 l

Fahrleistungen/Verbrauch:
Top Speed: 325 km/h
0-100 km/h: 3,3 s
0-200 km/h: 9,3 s

Euro-6d-TEMP
Verbrauch kombiniert nach WLTP: 13,8 l/100 km
CO2 kombiniert nach WLTP: 330 g/km

Grundpreis: 185.477 Euro incl. MwSt.

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